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Algorithmen in der Medizin - Wie dient das den Patient:innen?

Stand:
Corona-Risiken oder sogar Corona-Infektionen erkennen, Krebs diagnostizieren, Herzinfarkte vorhersagen – Algorithmen sind in der modernen Medizin längst angekommen. Manchmal ergänzen sie die Arbeit der Ärzte, manchmal ersetzen sie sie.
Eine Ärztin sitzt an einem Tisch und arbeitet mit Laptop und Tablet.

Das Wichtigste in Kürze:

  • Algorithmen werten große Mengen an Patientendaten aus.
  • Sie erkennen Muster, die Ärzte nicht sehen können.
  • Der Einsatz von Algorithmen in der Medizin ist ein Fortschritt, der uns vor gesellschaftliche Herausforderungen stellt.
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Dr. Algo vs. Dr. House

Vielleicht erinnern Sie sich noch: In den 2000ern rumpelte Dr. House durch die TV-Krankenhausflure und stellte schlecht gelaunte, aber geniale Diagnosen. Dass er nicht gefeuert wurde, verdankte er seiner Brillanz. Und seiner Bilanz. Er verknüpfte Punkte und Daten, die sonst keiner kombinierte. Sein unfreundliches Verhalten brachte ihn immer wieder in Konflikt mit der Krankenhausleitung.

Nur wenige Jahre nach dem Absetzen der TV-Serie könnte man behaupten, dass Dr. House tatsächlich der Vergangenheit angehört. Kein Krankenhaus der Welt müsste heute einen grantigen und zynischen Arzt tolerieren, nur weil er besonders knifflige Diagnosen stellen kann. Denn das erledigen heute mittlerweile Computer.

Algorithmen lesen riesige Mengen an Patientendaten aus

Algorithmen können einiges und manches davon besser als Ärzte. Das liegt daran, dass die eingesetzten Algorithmen häufig selbstlernende Systeme sind, die man mit einem riesigen Paket an Patientendaten füttern kann. Eine vergleichbare Menge an Daten könnte kein Mensch verarbeiten. Deshalb können Algorithmen Muster erkennen, die Menschen verborgen bleiben. Für die Medizin bedeutet das: Ein Algorithmus kann Wahrscheinlichkeiten erkennen und berechnen, von denen ein Arzt vielleicht nicht einmal weiß, dass es sie gibt.

Algorithmus rettet Herzinfarkt-Patienten

Ein Beispiel: Bei einem Herzinfarkt zählt jede Minute. Je länger das Herz nach einem Infarkt ohne Sauerstoff bleibt, desto größer ist die Gefahr, zu sterben. Das bedeutet umgekehrt auch: Je früher man einen sich anbahnenden Infarkt erkennt, desto höher sind die Überlebenschancen. Deshalb werden Risikopatienten in Krankenhäusern von Medizintechnik überwacht, die bei Kammerflimmern oder einem Infarkt im Anfangsstadium Alarm schlägt. Und trotzdem kann so nicht jeder Infarkt verhindert werden. In den U.S.A. erleiden bis zu 400.000 Menschen jährlich einen Herzinfarkt, obwohl sie sich bereits in einem Krankenhaus befinden.1

In einem Krankenhaus nördlich von Detroit hat ein Algorithmus die Sterberate unter den Herzpatienten innerhalb von vier Jahren auf ein Drittel reduziert. Die neue Software überwacht den Blutdruck, Puls, Temperatur sowie Herz- und Atemfrequenz. Daran ist an sich noch nichts neu. Das neue System betrachtet – anders als bisherige Technik - aber nicht nur die einzelnen Werte, sondern auch ihr Zusammenspiel. Während früher der Alarm anschlug, wenn ein Wert signifikant aus der Reihe fiel, warnt das neue System die Ärzte schon deutlich früher: Nämlich dann, wenn sich bei mehreren Werten gleichzeitig Veränderungen ergeben, auch wenn die Schwankungen nur geringfügig sind. Eine computerbasierte Auswertung von 20.000 Patientendaten hatte im Vorfeld ergeben, dass schon einige Stunden vor dem lebensbedrohlichen Ereignis solche Muster in den Gesundheitswerten erkennbar sind.2

Auch in Deutschland und den Niederlanden wird an der auf Algorithmen basierten Prävention von Herzerkrankungen geforscht. Ziel: Eine Smartphone-App, die Herzrhytmusstörungen erkennen kann. Dazu werden die Blutgefäße regelmäßig mit dem Licht des eigenen Smartphones durchleuchtet.3

Von Diagnose bis Prognose – das leisten Algorithmen in der Medizin

Digitale Algorithmen sind in unserem Medizinsystem längst angekommen. Sie lesen riesige Mengen an Bilddaten aus und können so Krebs- und sogar Corona-Infektionen erkennen. Bei schwer erkrankten Patienten gibt es Modelle, die aufgrund der vorhandenen Gesundheitsdaten berechnen können, wie lange der Patient voraussichtlich noch leben wird.

Auch in der Therapie kommen Algorithmen zum Einsatz. Sie können zum Beispiel bei Menschen mit Leberkrebs dazu beitragen, dass die Operation effektiver und sicherer wird. Auf der Basis eines 3-D-Modells berechnen sie im Vorfeld optimale Schnitte und besonders kritische Abschnitte. Oder sie optimieren in Implantaten das Hörerlebnis für Menschen mit Hörschäden. Für Menschen mit Diabetes gibt es mittlerweile eine Smartphone-App, die als persönlicher Assistent fungiert. Ein kleiner Sensor unter der Haut sendet alle fünf Minuten Blutzuckerwerte an die App. Sobald der Wert den individuellen Höchst- oder Tiefstwert unterschreitet, gibt die App ein Alarmsignal.

Noch mehr darüber, in welchen medizinischen Bereichen Algorithmen bereits eine Rolle spielen, erfahren Sie in der Studie Algorithmen in der Gesundheitsversorgung der Bertelsmann Stiftung und des cologne center for ethics, rights, economics, and social sciences of health (ceres).

Auf diese Punkte müssen wir als Gesellschaft achten

Klar ist: Algorithmen verändern unser Medizinsystem. Sie erkennen schwer zu diagnostizierende Krankheiten, optimieren Therapien und retten im Zweifelsfall Leben. Aber all das ist mit einem Preis verbunden. Denn wenn die KI in unserem Gesundheitssystem zulassen , dann sollten wir uns als Gesellschaft über einige Punkte klar werden.

Dilemma 1: Arzt oder Algorithmus?

Wenn wir einen Algorithmus einsetzen, wäre es dann nicht gut, wenn wir wüssten, dass er tatsächlich besser ist als der Arzt? Wahrscheinlich schon. Die Antwort auf diese Frage ist aber alles andere als einfach. Sehr komplexe Algorithmen, die mit einer selbst lernenden Künstlichen Intelligenz ausgestattet sind, würden – um beim Beispiel Herzinfarkt zu bleiben – eine große Zahl solcher Fälle erfassen und herausfinden, dass nicht nur die Veränderung der vorgegebenen Werte eine Rolle spielen kann. Auch wenn ein weiterer Faktor sich verändert, steigt offensichtlich das Risiko. Die Künstliche Intelligenz würde daraufhin selbstständig den einfachen (alten) Algorithmus anpassen.

In diesem Fall wissen wir oft nicht, wie die künstliche Intelligenz lernt. Wir können nicht beurteilen, ob sie die gleichen oder andere Parameter als ein Arzt berücksichtigen. Wir können nur das Ergebnis vergleichen. Dazu bräuchte es allerdings belastbare Studien.

Die Studienlage zu Algorithmen und Ärzten im Vergleich ist aber nicht in allen Fachgebieten üppig. Die vorhandenen Studien erfüllen auch nicht immer die strengen Kriterien, die für aussagekräftige medizinische Untersuchungen eigentlich gelten. Obwohl die Evidenz nicht überall ausreichend ist, kommen Algorithmen bereits in vielen Gebieten zum Einsatz.4 Es ist vielleicht sinnvoll, darüber nachzudenken, wie Maßstäbe aussehen könnten, die die Qualität der eingesetzten Algorithmen flächendeckend sicherstellen.

Auch Algorithmen sind fehleranfällig. Sei es, weil sie von Menschenhand programmiert sind oder, weil sie selbst "interpretieren".

Und: Das eine sollte nicht gegen das andere ausgespielt werden. Algorithmen können ärztliches Wissen und ärztliche Entscheidungen ergänzen. Sie können unterstützen. Beim Erkennen seltener Erkrankungen mögen sie überlegen sein, in der Überwachung kranker Patienten sind sie sehr nützlich. Aber sie ersetzen nicht das Vertrauen und das gewachsene Verhältnis zwischen Arzt und Patient. Zumal viele Erkrankungen psychosomatische Anteile haben, die ein aufmerksamer Arzt, der seinen Patienten schon lange kennt, erkennen könnte.

Dilemma 2: Gesellschaft vs. Individuum

Der Einzelne und die Gemeinschaft haben nicht immer die gleichen Interessen. Das haben Sie vielleicht auch schon mal erfahren, als Sie eine medizinische Behandlung selbst bezahlt haben, die im Budget Ihrer Krankenkasse nicht drin war.

Um als System für alle funktionieren zu können, müssen Krankenkassen einen Leistungskatalog definieren. Wenn sie alles für jeden übernehmen würden, würden die Kosten explodieren und niemand hätte mehr Schutz im Krankheitsfall. Trotzdem war Ihr Interesse an einer bestimmten Behandlung oder einem bestimmten Medikament möglicherweise sinnvoll und berechtigt.

Was nun also tun, wenn ein Algorithmus berechnet, dass die Therapie für einen unheilbar kranken Menschen (zu) teuer ist, auch wenn sie ihm zusätzliche Lebensmonate schenkt? Die technischen Möglichkeiten dazu sind bereits da. Wie wir diese Frage als Gesellschaft beantworten möchten, ist dagegen nicht klar.

Dilemma 3: Das Recht auf Nichtwissen

Nehmen wir an, in Ihrer Familie gibt es Erkrankungen. Ein Algorithmus könnte für Sie berechnen, mit welcher Wahrscheinlichkeit Sie wann erkranken oder sterben könnten. Möchten Sie das wissen? Einige Menschen beantworten diese Frage mit einem klaren "Ja!". Sie möchten sich vorbereiten, ihr Leben anpassen, therapeutische Optionen in Erwägung ziehen und alles tun, um die Wahrscheinlichkeit zu senken.

Andere dagegen möchten nichts davon wissen. Sie wollen ihr Leben leben und sich nicht von Wahrscheinlichkeiten verrückt machen lassen. Und das ist ihr gutes Recht.

Wie könnte also ein gesellschaftlicher Kompromiss aussehen, der es einigen erlaubt, die Möglichkeiten der modernen Medizin zu nutzen, aber nicht alle dazu verpflichtet?

Dilemma 4: Der Gläserne Patient

Im November 2019 wurde bekannt, dass ein amerikanischer Krankenhausbetreiber seine kompletten Patientendaten auf einer Cloudplattform des Internetriesen Google speichert. Ärzte und Patienten waren ahnungslos. Dieser Eklat zeigt vor allen Dingen eins: Damit die Medizin von Algorithmen profitieren kann, braucht sie große Datenmengen, die sie auswerten kann. Die Möglichkeit für die Speicherung und wirtschaftliches Interesse an diesen Daten haben aber vor allen Dingen private Unternehmen. Medizinische Daten zählen zu den hochsensiblen Daten. Wenn wir erlauben, dass private Unternehmen bei der Verarbeitung dieser Daten mitmischen, ist das mit datenschutzrechtlichen Risiken verbunden. Denn aus Gesundheitsdaten lassen sich weitreichende Schlüsse ziehen. Versicherungen, Arbeitgeber, Banken oder pharmazeutische Unternehmen – sie alle haben Interesse daran.

Etwas weitergedacht, könnte die Entwicklung so laufen: Sie bekommen einen Job nicht, weil Sie gesundheitlich nicht belastbar genug sind. Sie erhalten keinen Kredit für Ihre Eigentumswohnung, weil die Bank nicht glaubt, dass Sie bis 2060 überhaupt noch leben. Und Ihre Krankenversicherung erhebt einen Risikozuschlag, weil Ihr Lebenswandel zu belastend ist. Klingt unfair? Finden wir auch.

Das können Sie tun

Unser Gesundheitssystem steht an einem Wendepunkt. Es wird in den kommenden Jahren an digitaler Fahrt aufnehmen. Sie haben jetzt die Chance mitzudiskutieren, sich zu informieren und zu engagieren! Und noch ein ganz praktischer Tipp: Nicht alle Gesundheitsdaten landen unfreiwillig auf dem Server großer Firmen. Wenn Sie in Sachen Gesundheit und Fitness (#Wearables, #Fitnessapp) Ihre Daten nur sparsam preisgeben, ist das sicher nicht das Schlechteste, was man zum aktuellen Zeitpunkt tun kann. Denn auch aus diesen scheinbar harmlosen Daten können wichtige Schlüsse über Sie gezogen werden.


[1] Müller-Eiselt, Ralph. 2020. Algorithmen zum Überleben. Algorithmenethik / Bertelsmann Stiftung. Zuletzt abgerufen am 29.09.2020.

[2] Müller-Eiselt, Ralph. 2020. Algorithmen zum Überleben. Algorithmenethik / Bertelsmann Stiftung. Zuletzt abgerufen am 29.09.2020.

[3] Jannes, Marc et al. 2018. Algorithmen in der Gesundheitsversorgung. BertelsmannStiftung & cologne center for ethics, rights, economics, and social sciences of health (ceres). Zuletzt abgerufen am 29.09.2020.

[4] Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 08.05.2020. Sind Algorithmen tatsächlich die besseren Ärzte? Zuletzt eingesehen am 29.09.2020.